„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Finanzgerichtsbarkeit“

Bericht über das Symposium anlässlich des
75-jährigen Bestehens des Niedersächsischen Finanzgerichts

von Ri Dr. Martin Ludger Mönninghoff / Ri’in Carina Teuber / Ri Dr. Matthias Wuthenow

Anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Niedersächsischen Finanzgerichts richtete dessen Richterschaft gemeinsam mit dem Verein zur Förderung der Steuerrechtswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover (VFS Hannover) am 13. August 2024 ein Symposium zum Thema „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Finanzgerichtsbarkeit“ aus.

Bei strahlendem Sonnenschein konnte der Vorsitzende des Richterrats VRiFG Christoph Schirp, der durch die Veranstaltung führte, rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Richterschaft, der Finanzverwaltung, der Anwaltschaft, der Beratung, der Wissenschaft sowie der Studentenschaft im 14. Stock des Hochhauses am Conti-Campus begrüßen.

Der Präsident der Leibniz Universität Hannover Prof. Dr. Volker Epping sprach in seinen Grußworten seine Freude darüber aus, dass die Veranstaltung in den Räumlichkeiten der Universität ausgerichtet werde und sich insbesondere der VFS Hannover e.V. an der Universität für die Förderung der Ausbildung der Studierenden im Steuerrecht einsetze. Angesichts der Finanzgerichtsbarkeit als zentraler Säule des Rechtsstaats und als Teil der Staatsstruktur wäre ein steuerrechtlicher Lehrstuhl sicherlich wünschenswert, momentan aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit aber nicht umsetzbar. Er appellierte an die Richterinnen und Richter des Finanzgerichts sich (weiterhin) an der Universität einzusetzen, den Rechtsstaat hochzuhalten und durch Rechtsprechung das Recht weiterzuentwickeln.

RA/StB Dr. Zacharias-Alexis Schneider berichtete als stellvertretender Vorsitzender des VFS Hannover sodann, dass sich der Verein seit knapp zehn Jahren an der Leibniz Universität Hannover dafür einsetze, Studierenden das Steuerrecht näher zu bringen und den Austausch mit der Praxis zu fördern. Der Verein verfolge weiterhin das Ziel der Einrichtung eines Steuerrechtslehrstuhls.

VRiFG Christoph Schirp erklärte, dass das Niedersächsische Finanzgericht in den zurückliegenden 75 Jahren diverse Umbrüche durchlebt habe. Sofern man die Parallele zum Sport ziehen wolle, hätten die Beschäftigten des Finanzgerichts diverse Wettkämpfe bestritten. So seien die letzten Jahre durch den Marathon der Digitalisierung geprägt gewesen. Die Einführung der elektronischen Akte beim Niedersächsischen Finanzgericht in der ersten Hälfte des Jahres 2024 habe dagegen einem Turmsprung entsprochen. So habe von der Einarbeitung, über die Umsetzung sowie die Einführung weiterer Bildschirme ein hohes Tempo bestanden. Die Kommunikation mit den Beteiligten habe sich über das Fax bis hin zum EGVP auf diese Weise aber deutlich verbessert. Als letzter Schritt fehle nun noch die Übermittlung elektronischer Steuerakten seitens der Finanzverwaltung. Aus seiner Sicht sei bei allen Fortschritten für richterliche Entscheidungen jedoch nicht die Schnelligkeit wichtig, sondern deren Präzision, Genauigkeit und Rechtsstaatlichkeit.

Rückblick auf 75 Jahre Niedersächsische Finanzgerichtsbarkeit

Präsidentin Petra Hager sprach zunächst den Organisatoren und Helfern (insbesondere dem Vorsitzenden des VFS Hannover RiFG Dr. Thomas Keß, den Studierenden sowie den Kolleginnen und Kollegen des Finanzgerichts) sowie Herrn Präsidenten Prof. Dr. Volker Epping für die Überlassung der Räumlichkeiten ihren Dank aus.

Sodann gab sie anhand von Fotos einen kurzen Rückblick auf 75 Jahre der Niedersächsischen Finanzgerichtsbarkeit. Zur historischen Entwicklung führte sie aus, dass eine niedersächsische Finanzgerichtsbarkeit in der britischen Besatzungszone am 1. Februar 1949 eingeführt worden sei. Erstmals sei damit ein von der Finanzverwaltung getrenntes und unabhängiges Finanzgericht eingerichtet worden. Der Spruchkörper habe zu diesem Zeitpunkt aus zwei Berufsrichtern und drei Ehrenamtlichen bestanden. Mit der Finanzgerichtsordnung habe die Finanzgerichtsbarkeit zum 1. Januar 1966 eine eigene Verfahrensordnung erhalten. Diese habe Senate vorgesehen, die aus drei Berufsrichtern und zwei Ehrenamtlichen bestünden. Aus dieser ergebe sich zudem der zweistufige Aufbau, nach dem das Finanzgericht alleinige Tatsachen- und Rechtsinstanz sei.

Sie berichtete, dass das Niedersächsische Finanzgericht zunächst im mittlerweile nicht mehr existenten Friederikenschlösschen am Waterlooplatz in Hannover untergebracht gewesen sei. Nach dessen Abriss sei zunächst ein anderes Gebäude am Waterlooplatz (mit Außenstellen) bezogen und im Jahr 1990 der Sitz in den Stadtteil Döhren verlegt worden. Im Jahr 2015 sei man in das neu entstandene Fachgerichtszentrum in der Nähe des Hauptbahnhofs eingezogen.

Zu Beginn habe das Gericht aus acht Richtern und Beschäftigten im nichtrichterlichen Dienst bestanden. Die erste Richterin sei erst im Jahr 1973 eingestellt worden. In den letzten 75 Jahren sei das Gericht von acht Präsidenten geleitet worden. 1 Richterin sowie 12 Richter seien vom Niedersächsischen Finanzgericht an den Bundesfinanzhof nach München berufen worden.

Ferner ging sie darauf ein, dass sich die Arbeit der Beschäftigten des Finanzgerichts insbesondere wegen der technischen Ausstattung im Laufe der letzten 75 Jahre deutlich verändert habe. Mittlerweile würden Entscheidungen der Richterinnen und Richter nicht mehr handschriftlich, sondern sprachgestützt am Computer abgefasst werden. Protokolle würden nicht mehr durch Protokollkräfte oder Bandgeräte, sondern über digitale Diktiergeräte geschrieben werden. Die Papierakten seien erst kürzlich durch die elektronische Aktenführung ersetzt worden. Zudem bestünde die Möglichkeit der Videoverhandlung, die zukünftig wohl eine noch größere Rolle einnehmen werde.

 

Einfluss der Rechtsprechung auf die Rechtsentwicklung

RiBFH Dr. Roland Krüger stellte sodann den Einfluss der Rechtsprechung auf die Rechtsentwicklung anhand von Beispielfällen des VI. Senats des Bundesfinanzhofs dar, wobei er insbesondere das Wechselspiel der Hauptakteure im Steuerrecht, nämlich Gesetzgeber, Steuerpflichtige und ihre Berater, Finanzverwaltung und Rechtsprechung, in den Blick nahm. Der Gesetzgeber sei aufgefordert, gute Steuergesetze zu schaffen, welche die Steuerpflichtigen und ihre Berater kennen und befolgen müssten. Auf deren Rechtsbehelfe habe die Rechtsprechung die Gelegenheit, das Steuerrecht weiter zu prägen, woraufhin die Finanzverwaltung wiederum die Möglichkeit habe, dem zu folgen oder mit Nichtanwendungserlassen zu reagieren.

An der Entwicklung der Behandlung von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung lasse sich dieses Wechselspiel gut darstellen. Nachdem ursprünglich mangels Existenznotwendigkeit grundsätzlich keine Abziehbarkeit von Zivilprozesskosten als außergewöhnliche Belastung bestanden habe, habe der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 12. Mai 2011 (Az. VI R 42/10) entschieden, dass streitige Ansprüche wegen des staatlichen Gewaltmonopols regelmäßig nur gerichtlich durchgesetzt oder abgewehrt werden könnten. Zivilprozesskosten würden deshalb in der Regel unabhängig vom Gegenstand des Rechtsstreits aus rechtlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Als Reaktion darauf habe der Bundesrat ein Änderungsgesetz durch Einfügung eines neuen § 33 Abs. 3a EStG gefordert, was durch die Bundesregierung zunächst im Hinblick auf einen Nichtanwendungserlasses der Finanzverwaltung und weitere anhängige BFH-Verfahren abgelehnt worden sei. Schließlich sei mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz (vom 26. Juni 2013, BGBl. I 2013, 1809) reagiert worden, durch das § 33 Abs. 2 EStG um Satz 4 ergänzt worden sei, nach dem Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits vom Abzug als außergewöhnliche Belastung ausgeschlossen worden seien, es sei denn, es handele sich um Aufwendungen, ohne die der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

Ein weiteres Beispiel sei die ursprüngliche Unterscheidung zwischen als Werbungskosten abziehbaren Kosten der Fortbildung in einem ausgeübten Beruf und als Sonderausgaben begrenzt abziehbaren Aufwendungen der Ausbildung in einem künftigen Beruf. Mit Urteil vom 17. Dezember 2002 (Az. VI R 137/01) habe der Bundesfinanzhof entschieden, dass der für das Vorliegen von Werbungskosten erforderliche Veranlassungszusammenhang bei jedweder berufsbezogener Bildungsmaßnahme erfüllt sein könne, unabhängig davon, ob es sich nach der bisherigen Diktion um Aus- oder um Fortbildungskosten handele. Darauf habe der Gesetzgeber mit der Erhöhung des als Sonderausgaben abziehbaren Betrags der Fortbildungskosten auf 4.000 Euro in § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG sowie mit einem Abzugsverbot für Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erste Berufsausbildung und ein Erststudium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben außerhalb eines Dienstverhältnisses in § 12 Nr. 5 EStG reagiert. Der Bundesfinanzhof wiederum habe mit Urteil vom 18. Juni 2009 (Az. VI R 14/07) den Vorrang des Werbungskosten- oder Betriebsausgabenabzugs vor dem Sonderausgabenabzug gemäß § 10 Abs. 1 EStG klargestellt und die Abziehbarkeit der Kosten eines Erststudiums bei Vorliegen einer anderweitigen Erstausbildung trotz § 12 Nr. 5 EStG angenommen. Dies habe schließlich den Gesetzgeber veranlasst, mit dem Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 7. Dezember 2011 (BGBl. I 2011, 2592) erneut zu reagieren, wonach fortan gemäß § 9 Abs. 6 EStG und § 4 Abs. 9 EStG Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, das eine Erstausbildung vermittelt, außerhalb eines Dienstverhältnisses keine Werbungskosten oder Betriebsausgaben waren. Später sei durch das sog. Zollkodexanpassungsgesetz vom 22. Dezember 2014 (BGBl. I 2014, 2417) der Begriff der Berufsausbildung als Erstausbildung präzisiert worden.

Als letztes Beispiel für das Wechselspiel der Hauptakteure des Steuerrechts diente schließlich die steuerliche Behandlung von Sachbezügen. Nach der älteren Rechtsprechung seien Zuschüsse des Arbeitgebers „zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn“ geleistet worden, wenn sie zu den Lohnzahlungen hinzukamen, die entweder durch Vereinbarung, eine dauernde Übung oder sonst arbeitsrechtlich geschuldet waren, wohingegen nach Auffassung der Finanzverwaltung eine zweckbestimmte Leistung, die zu dem Arbeitslohn hinzukam, den der Arbeitgeber arbeitsrechtlich schuldete, ausreichend war. Nur Gehaltsumwandlungen waren danach schädlich. Nachdem der Bundesfinanzhof durch Urteil vom 1. August 2019 (Az. VI R 32/18) entschieden habe, dass ohnehin geschuldeter Arbeitslohn derjenige Lohn sei, den der Arbeitgeber verwendungsfrei und ohne eine bestimmte Zweckbindung ohnehin erbringe, habe der Gesetzgeber durch den neu geschaffenen § 8 Abs. 4 EStG reagiert, der nunmehr definiere, wann Leistungen des Arbeitgebers zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn erbracht würden.

Finanzgerichtlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen

Im Anschluss hielt Prof. Dr. Roman Seer einen launigen Vortrag zum Thema „Finanzgerichtlicher Rechtsschutz in Verfassungsfragen“. Vorweg stellte er dabei heraus, dass die Bürger vor den Finanzgerichten den über Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) zugesicherten subjektiven Individualrechtsschutz geltend machen könnten. Dieses Recht umfasse auch den Rechtsschutz in Verfassungsfragen. Lediglich eine Verwerfungskompetenz komme den Finanzgerichten nicht zu, sodass eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht erfolgen müsse, sofern das Finanzgericht eine Norm für verfassungswidrig halte.

Zunächst richtete Seer sein Augenmerk auf eine BFH-Entscheidung zu § 165 der Abgabenordnung (AO), in der nach seiner Auffassung die Rechte des Art. 19 Abs. 4 GG missachtet worden seien. Aus der Entstehungsgeschichte des § 165 AO gehe dessen rechtsschutzfordernder Charakter hervor, welcher in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs vom 26. September 2023 (Az. IX R 9/22) verloren gegangen sei. So habe der Bundesfinanzhof eine Klage gegen die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags mit der Begründung, dass bereits ein Verfahren beim Bundesverfassungsgerichtanhängig sei und aufgrund des diesbezüglich bestehenden Vorläufigkeitsvermerks dem Kläger das Rechtschutzbedürfnis fehle, als unzulässig verworfen. Der Kläger werde nach Ansicht von Seer auf die alleinige Möglichkeit verwiesen, an einem anderen Verfahren zu partizipieren, dessen Ausgang – wie der Bundesfinanzhof in dem Urteil selbst ausführe – ungewiss bereits hinsichtlich der Frage sei, ob der Bundesfinanzhof überhaupt zu einer Sachentscheidung über die verfassungsrechtliche Frage kommen werde. Da das Verfahren aber nicht von vornherein aussichtslos sei, sei es auch nicht als Musterverfahren im Rahmen eines Vorläufigkeitsvermerks ungeeignet. Sofern das Verfahren nicht zu einer Sachentscheidung gelange, stehe es dem Kläger frei, nach § 165 Abs. 2 Satz4 AO zu beantragen, dass die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für endgültig erklärt werde und sodann erneut gegen die Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks zu klagen. Nach Auffassung von Seer liege hierin eine gravierende Verkennung des rechtsschutzerweiternden Telos des § 165 AO und eine massive Einschränkung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Klägers, der aufgrund der Verwerfung seiner Klage als unzulässig auch die Kosten des Verfahrens zu tragen habe. Insbesondere vor dem Hintergrund der zu langen Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht sei diese Handhabung regelrecht absurd.

Im Anschluss widmete sich Seer der Unkalkulierbarkeit der Aussprüche des Bundesverfassungsgerichts. Im Grundsatz sehe § 78 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) vor, dass eine Norm für nichtig erklärt werde, wenn sie nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Stattdessen sei in den vergangenen Jahrzehnten die sog. Fortgeltungsanordnung zur Regel geworden, bei welcher eine Norm für als mit den Grundrechten unvereinbar befunden werde, aber bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber fortgelten könne. Diese Art von Aussprüchen habe ursprünglich als absolute Ausnahme gegolten. Die mittlerweile inflationäre Verwendung der Fortgeltungsanordnung führe seiner Ansicht nach dazu, dass der Gesetzgeber den Respekt vor den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verliere und es bei zweifelhaften Regelungen „darauf ankommen lasse“. Vor diesem Hintergrund sollte das Bundesverfassungsgericht wieder zu dem Grundsatz der „ex tunc-Entscheidung“ zurückkehren und die Fortgeltungsanordnung nur noch dem Ausnahmefall vorbehalten. Da die Fortgeltungsanordnung sogar dazu führen könne, dass der Kläger auch den finanzgerichtlichen Prozess verliere, obwohl ihm dem Grunde nach Recht gegeben worden sei, plädierte Seer dafür, dass in derartigen Fällen zumindest eine verfassungskonforme Auslegung des § 137 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch die Finanzgerichte geprüft werden sollte, um in einem solchen Fall nicht dem Kläger die Prozesskosten aufzuerlegen.

Seer führte abschließend dazu aus, dass das Bundesverfassungsgericht zu hohe Anforderungen an Normenkontrollvorlagen durch die Gerichte nach Art. 100 GG stelle. Nach dem Gesetzeswortlaut des § 80 Abs. 2 BVerfGG müsse die Begründung des Gerichts lediglich angeben, inwiefern die Gültigkeit der Norm entscheidungserheblich und mit welcher übergeordneten Rechtsnorm sie unvereinbar sei. In der Praxis sei es hingegen so, dass das Bundesverfassungsgericht daneben u.a. eine umfassende Auswertung der Rechtsprechung sowie die Prüfung der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung fordere, wobei sämtliche Argumente aus der Vorlage selbst ersichtlich sein müssten; anderenfalls würde die Vorlage bereits als unzulässig verworfen. Dies führe im Ergebnis dazu, dass es im vergangenen Jahr lediglich eine Vorlage im Sinne des Art. 100 GG seitens der Finanzgerichte gegeben habe. Wenn das Bundesverfassungsgericht nach zehn Jahren einen Normenkontrollantrag unter Erklärung in 90 Randziffern als unzulässig verwerfe, sei dies nur schwer vermittelbar. Wenn ein Richter von der Verfassungsmäßigkeit einer Norm überzeugt sei und diese mangels eigenen Verwerfungsmonopols dem Bundesverfassungsgericht vorlege, so solle dieses als Inhaber der Monopolstellung die Prüfung gefälligst auch vornehmen. Die aktuellen „Entscheidungsverhinderungsregelungen“ des Bundesverfassungsgerichts würden aus einer Sicht eine unzumutbare „Verhürdung“ darstellen.

Podiumsdiskussion

v.l.n.r. Prof. Dr. Roman Seer, Fritz Güntzler, Petra Hager, Harald Schole, Dr. Ulrike Schramm, Christoph Schirp

Zu guter Letzt diskutierten die Präsidentin des Niedersächsischen Finanzgerichts Petra Hager, StB Dr. Ulrike Schramm (Global Head of Tax & Customs, Continental AG), WP/StB Dipl.-Kfm. Fritz Güntzler (Präsident der Steuerberaterkammer Niedersachsen und gleichzeitig Mitglied des Deutschen Bundestags), Abteilungsdirektor Harald Schole (Landesamt für Steuern Niedersachsen) sowie Prof. Dr. Roman Seer unter der Moderation durch VRiFG Christoph Schirp unter dem Titel „Perspektiven der Finanzgerichtsbarkeit“ folgende Themen:

1. Ausbildung im Finanzprozessrecht
Zum Thema Ausbildung im Finanzprozessrecht führte Güntzler aus, dass es z.B. über das Studium der Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre oder Rechtswissenschaften viele Wege zum Steuerberater gebe. Eine besondere Spezialisierung auf finanzgerichtliche Verfahren in Form eines Fachberaters gebe es aber nicht. Schole erklärte, dass im gehobenen und höheren Dienst der Finanzverwaltung das Verfahrensrecht einen Teil der Ausbildung darstelle. Eine entsprechende Einarbeitung erfolge zudem im Rahmen der Tätigkeit in der Rechtsbehelfsstelle. Schramm betonte, dass sie bei Einstellungen für die eigene Rechtsabteilung nicht zwischen den Ausbildungswegen differenziere. Es zähle neben der Fachkompetenz die Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Bei Bedarf werde zudem mit Rechtsberatern zusammengearbeitet. Hager erklärte, dass für die Tätigkeit als Richterin bzw. Richter im Finanzgericht weiterhin die Befähigung zum Richteramt erforderlich sei. Neben zwei vollbefriedigenden Examina seien drei Jahre Berufserfahrung wünschenswert.

2. Bewerberlage
Hager erklärte, dass die Bewerberlage beim Finanzgericht sehr unterschiedlich sei. Für die Justiz insgesamt sei es aber schwieriger geworden, offene Stellen zu besetzen. Schole stimmte ihr zu, dass die Bewerberlage schlechter geworden sei. Problematisch sei zudem in Niedersachsen als Flächenland das Thema Versetzung. Schramm ergänzte, für sie sei es schwer, Bewerber im Bereich des internationalen Steuerrechts zu finden. Angesichts des fortschreitenden Einsatzes von SAP und Power BI würden aus ihrer Sicht zudem nicht nur Steuerrechtler, sondern IT-Fachkräfte benötigt. Güntzler bestätigte, dass aufgrund der bestehenden Altersstruktur die Sorge bestehe, dass es künftig weniger Steuerberater geben werde. Infolgedessen sei die Modernisierung des Steuerberaterexamens angedacht. Ferner wäre eine Tax Law Clinic eine Möglichkeit Studentinnen und Studenten das Steuerrecht näher zu bringen. Seer merkte an, dass die Juristenausbildung weiterhin auf den Einsatz in der ordentlichen Justiz ausgerichtet sei. Steuerrecht sei leider kein Teil der juristischen Ausbildung und bilde keinen Mehrwert für die Examina. In Niedersachsen sei der letzte verbliebene Steuerrechtslehrstuhl in Osnabrück massiv verkleinert worden. Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten stünden aus seiner Sicht noch schlechter dar. Die Zukunft liege in einer „IT-Tax-Ausbildung“.

3. Digitalisierung
Sodann diskutierten die Teilnehmer zur Frage, ob eine Steuerfestsetzung rein auf der Basis von Datenprozessen wünschenswert wäre. Schramm wies darauf hin, dass in diesem Fall nicht sichergestellt sei, dass die einzelnen Sachverhalte hinreichend aufgeklärt werden. Ein solcher Prozess wäre schon deswegen fehleranfällig. Sie würde sich vielmehr wünschen, dass eine Steuererklärung anhand der Accounting-Daten auf Knopfdruck erstellt werden könnte. Kritische Fragestellungen müssten in diesem Fall aber dennoch herausgefiltert und gesondert begutachtet werden. Sie merkte an, dass Steuerberatung immer nach vorn gerichtet sei. Daten seien daher insbesondere in Umstrukturierungsfällen wichtiges Entscheidungskriterium. Die Steuerbelastung stellt stets einen Kostenfaktor dar. Güntzler betonte, dass in der Beraterschaft schon im Bewerbungsprozess die Digitalisierung ein wichtiges Kriterium darstelle. Umgekehrt müsste aber auch beachtet werden, dass Berater ihre Mandantschaft mitdigitalisieren müssen. Auch in Kanzleien würden daher IT-Fachleute benötigt, die Probleme bei der Datennutzung beim Mandanten lösen könnten. Schole erklärte, dass die Finanzverwaltung seit mehreren Jahren mit dem Programm „KONSENS“ arbeite. Zudem würde der Studiengang Verwaltungsinformatik ausgebaut werden. Zudem sei das Risikomanagement eingeführt. Auf diese Weise sollen KI-gestützt die zur Fortbildung des Rechts relevanten Fälle herausgefiltert werden. Auf Nachfrage teilte er mit, dass noch nicht absehbar sei, wann die elektronische Steuerakte eingeführt werde.

4. Videoverhandlung
Diskutiert wurde die Frage, ob die mündliche Verhandlung vor Ort in Zeiten der Digitalisierung noch erforderlich sei. Schole berichtete, dass er die Videoverhandlung mit Ausnahme von Zeugenbefragungen positiv empfinde. Zudem könnten durch die Videoverhandlung insbesondere im Falle von Spezialisierungen Ressourcen eingespart werden. Güntzler meinte, dass fallbezogen entschieden werden sollte. Am Bildschirm sei aus seiner Sicht die persönliche Wahrnehmung eingeschränkt. Dies könne beispielsweise die Einigungsbereitschaft erschweren. Seer stimmte insoweit zu und betonte, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz gelte. Der persönliche Eindruck am Bildschirm sei ein anderer. Hager bestätigte, dass die Möglichkeit der Videoverhandlung in der Corona-Zeit hilfreich gewesen sei. Störungen müssten aber vermieden werden.

5. Teil-Feststellungsbescheide
Güntzler erklärte, dass die Möglichkeit des Erlasses eines Teil-Feststellungsbescheids bei längeren Verfahren hilfreich sein könne. Seer wies darauf hin, dass die Möglichkeit einer Sprungklage stets möglich sein sollte. Schramm bewertete den Anwendungsbereich für den Erlass eines Teil-Feststellungsbescheids als gering. Größere Unternehmen befänden sich dauerhaft in der Außenprüfung. Aus ihrer Sicht würde ein Teil-Feststellungsbescheid wegen zahlreicher Organschaften innerhalb eines Konzerns vielmehr zu einem Mehraufwand führen. Sie bevorzuge daher den direkten Gang zum Finanzgericht, um das Verfahren zu beschleunigen. Wünschenswert wäre eine schnellere Betriebsprüfung z.B. durch einen risikobasierten Ansatz.

6. Schlussworte
Schramm und Schole wünschen sich für die Zukunft eine größere Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern. Hager betonte, dass man keine Scheu vor der Erhebung einer Klage am Finanzgericht haben sollte. Es bestehe der Amtsermittlungsgrundsatz und die Möglichkeit richterlicher Hinweise. Güntzler merkte an, dass die Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht aus Sicht der Beratung zu lang sei. Er wünsche sich, dass der Gesetzgeber bei klarer Verfassungswidrigkeit von Normen zu schnelleren Lösungen käme und das Bundesverfassungsgericht nicht als Korrekturfunktion ausnutze. Seer wies darauf hin, dass der Steuervollzug möglich sein müsse. Dazu bedürfe es einer funktionsfähigen Verwaltung. Es bedürfe daher einer kooperativen Zusammenarbeit zwischen der Finanzverwaltung, den Beratern und den Steuerpflichtigen.


Wir bedanken uns ganz herzliche für das große Interesse an der Veranstaltung und das zahlreiche Erscheinen. Wenn Sie Interesse haben den VFS Hannover weiter zu unterstützen, melden Sie sich gerne per Mail unter info@vfs-hannover.de.

Fotos: Fotografenmeisterin Christiane Neupert